Die Welt erhalten und einen Apfelbaum pflanzen.
Am 2. Dezember 2023 erschien Dietrich Lehmann, genannt Lemmi, zum 2.000. Mal als Witwe Agathe und Hermann in Linie 1. Über vier Jahrzehnte hinweg hat der 83-jährige Schauspieler wirklich bei keiner der Vorstellungen im GRIPS Theater gefehlt. Im Interview erzählt er über die Hintergründe der Berlin-Revue und seine Arbeit mit den beliebten Rollen.
1986 spielten Sie mit 46 Jahren die Uraufführung von Linie 1. Welche Bedeutung hat das Stück für Sie?
Erstens spiele ich das Stück gern und fühle mich auch in der Neuinszenierung sehr wohl. Wenn man so will, ist Linie 1 ein Konglomerat der Themen, die wir in den Jahren vor 1986 im GRIPS Theater schon aufgegriffen hatten. Beispielsweise gab es in den Kinderstücken sogenannte Meckertanten, die sich aus dem Fenster lehnen, um sich über die unerzogenen Kinder mit langen Haaren zu beschweren. Eine der ersten Rollen, die ich gespielt habe, war so eine. Bei Linie 1 steigert sich das Ganze, weil gleich vier strenge Wilmersdorfer Witwen auf die Bühne kommen. Durch die Aufbereitung für Jugendliche und Erwachsene konnten die Themen auch anders verarbeitet werden.
Gibt es eine bestimmte Szene, die einen Eindruck auf Sie hinterlässt?
Als Figur muss ich natürlich von allem berührt werden, was mir widerfährt, aber ich selber bin nur ein kleiner Teil davon. Doch als Hermann – und auch ein bisschen persönlich – bin ich am meisten berührt, wo am Ende "Bitte halt mich fest" gesungen wird: Das Mädchen, das noch am Morgen von Suizid gesprochen hat, trifft am Abend einen jungen Mann, mit dem sie glücklich sein möchte und vielleicht auch könnte. Das ist eine schöne Film- und Theatergeschichte, die bei den besten Aufführungen zu Tränen rühren kann. Einfach durch das Alter hat man als Schauspieler die Chance, mehr Facetten dazuzugewinnen.
Mit solchen Höhepunkten kann ein Schauspieler die Frische des Stücks für sich bewahren?
Ja, das ist die alte Herausforderung: Jede Situation so zu erleben, als würde sie zum ersten Mal erlebt. Auf die Kunst muss man sich konzentrieren, denn sonst wird es langweilig. Dabei ist Theater immer in Veränderung. In den kleinen Schwankungen und Unterschieden liegt für mich ein Teil des Reizes.
Was ist Ihnen wichtig, um schnell zwischen den Rollen zu wechseln?
Ich habe relativ früh angefangen, mit schnellen Rollenwechseln zu arbeiten. Als Student an der Freien Universität wirkte ich im Studentenkabarett Die 7 Schaben mit, wo ich auch Volker Ludwig kennenlernte. Im klassischen Kabarett werden kleine Sketche und Songs gespielt, mit leicht erkennbaren Charakteren wie dem Unternehmer oder dem Facharbeiter. Eigentlich ist das Prinzip von Linie 1 dasselbe: Verschiedene Nummern werden nacheinander mit musikalischen Überleitungen gespielt. Dafür legt man sich bei der Probe auf eine Körperhaltung fest und vertieft diese über Bewegungen und den Tonfall. Anders als im Kabarett haben wir aber in Linie 1 den Anspruch, Menschen mit ihren psychologischen Tiefen und Untiefen darzustellen.
Hat sich Ihre Spielweise oder Einstellung zu den Figuren über die Jahre verändert?
Grundsätzlich nicht. Mir passiert es jedoch tatsächlich, dass ich nach 30 Jahren immer noch Möglichkeiten im Text von Volker Ludwig entdecke, die mir früher nicht aufgefallen sind. Sollte man sich eine frühe Aufzeichnung anschauen, wäre ich sehr enttäuscht, wenn heute keine Veränderungen zu erkennen wären. Einfach durch das Alter hat man als Schauspieler die Chance, mehr Facetten dazuzugewinnen.
Wurden die Figuren von Begegnungen in Ihrem eigenen Leben beeinflusst?
Das GRIPS Theater hat mal in Recklinghausen bei den Ruhrfestspielen gastiert, wo meine Mutter die Gelegenheit hatte, das Stück zu sehen. Nach der Vorstellung sagte sie zu mir: "So wie du die Witwe spielst, das ist ja genau wie Tante Tutti!" Manchmal weiß man nicht, woher man das kennt, wenn man eine Figur ins Leben ruft. Heute ist es auch die Aufgabe im Schauspiel, sich nach innen zu erinnern, wo etwas auf eigene Erfahrungen stößt. Ich habe dieser Tante sehr viel zu verdanken. Für die Witwe habe ich doch einiges von ihr abgeguckt und verdichtet. Eigentlich ist Agathe so keine Wilmersdorfer Witwe, sondern eine Düsseldorfer Witwe. Bei dem Hermann gibt es auch viele Ansatzpunkte, er wohnt für mich in Kreuzberg in der Oppelner Straße. Ohne Heizung, vierter Stock.
Wie kamen Sie auf die Oppelner Straße?
Ich sage das so, weil ich Ende der 60er Jahre, als GRIPS in den Anfängen war, genau dort lebte. Sieben Jahre ohne Heizung, aber das ging so. Die Miete kostete bescheidene 46,50 Mark, das wären heute vielleicht 23 Euro. Aus dieser Gegend stammt der Hermann und die Linden am Görlitzer Bahnhof blühen wirklich, wie ich singe. Für mich ist übrigens Hermanns letzter Satz entscheidend, wo ich gern dem gerade vereinten Pärchen sage: "Und wenn ihr die Welt erhalten und einen Apfelbaum pflanzen geht, ich bin für euch da!"
Ein gemeinschaftlicher Gedanke …
Dass die Welt veränderbar ist und hoffentlich zum Positiven, ist der Leitsatz von GRIPS. Das bewegt mich schon seit 50 Jahren und bleibt in unseren Umweltstücken über den Klimawandel oder die Vermüllung der Meere zentral. Wir wissen noch nicht, welche Temperaturen kommende Generationen im Sommer zu erwarten haben, aber schon heute sind Hitzerekorde auf der Welt zu spüren.
Gibt es etwas, was Sie noch sagen möchten?
Was mir am meisten imponiert hat, waren die ersten Vorstellungen nach der Pandemie. Da sind die Schülerinnen und Schüler aus der elften Klasse vor Begeisterung aufgestanden, auf einmal konnten wir alle wieder Leben erleben.
Außerdem erinnere ich mich an eine Vorstellung, wo ich die Jugendlichen gefragt habe, in was sich das Mädchen am Ende des Stücks verliebt hat. Ich hatte mir die Antwort erhofft, dass sie sich in den Jungen mit Mantel und Hut verliebt hat. Die Antwort, die ich bekommen habe, lautete aber: Sie hätte sich in Berlin verliebt. Das fand ich im Moment merkwürdig, aber je mehr ich darüber nachdenke, umso schöner finde ich die Antwort. Wenn man aus einer kleinen Stadt kommt, ist Berlin schon aufregend. Das habe ich auch so erlebt.
Vielen Dank für das Gespräch!
Seit 2005 sponsert GASAG in einer vertrauensvollen Partnerschaft die kulturelle Aktivität im GRIPS Theater. Alle zwei Jahre wird der Berliner Kindertheaterpreis gemeinsam verliehen.
Noch Fragen zu Linie 1? GRIPS antwortet: Zur 2.000. Jubiläumsvorstellung von LINIE 1: Eine kurze Chronik der Höhepunkte - GRIPS Blog